1. KAPITEL

Buffy war bestimmt schon hundert Mal, und auch an helleren, sonnigen Tagen, unbemerkt ins Haus geschlüpft. Als sie noch in Los Angeles gewohnt hatten, war es allerdings oft höllisch knapp gewesen.

Aber ausgerechnet heute hatte Mom auf sie gewartet.

Buffy war schon halb die Treppe hoch, als ihre Mutter sie mit einem »Guten Morgen« begrüßte.

Erwischt.

Buffys Magen schlug einen Salto, und sie machte sofort kehrt und stieg die Treppe wieder hinunter, als habe sie absolut nichts zu verbergen - was, wie sie zugeben musste, ihrer Mutter gegenüber nicht fair war. Sie hatte sich zur Gewohnheit gemacht, alles geheim zu halten, seit sie das große Los in der Jägerinnen-Lotterie gezogen hatte. Ein wenig atemlos grüßte sie »Guten Morgen«.

»Und, hast du gestern Abend viel Spaß gehabt?« Buffys Mutter bog um die Ecke, die das Esszimmer von der Diele trennte.

Buffy riss verständnislos die Augen auf und trat einen Schritt zurück. Genauer gesagt, auf die unterste Treppenstufe. Nicht zurückweichen. Benimm dich nicht verrückter als sonst.

»Spaß?«, wiederholte sie mit zitternder Stimme und versuchte, so unschuldig wie möglich dreinzuschauen.

Mom blieb ganz locker - ein gutes Zeichen. Sie nahm Buffys Unbehagen gar nicht wahr.

»Als du bei Willow warst«, fuhr Joyce Summers erklärend fort.

»Ach ja, stimmt, bei Willow war's super.« Nervös drehte Buffy Haarsträhnen um ihre Ohren. Sie war zwar nicht mehr nass, sah aber reichlich ramponiert aus. Angestrengt riss sie die Augen auf und bemühte sich um ein unschuldiges Lächeln. »Weißt du, sie ist so ein richtiger Spaßvogel.«

»Hast du Hunger?« Die ewig mütterliche Frage, auch wenn Buffy jetzt nichts anderes wollte, als der peinlichen Musterung zu entgehen.

»Eigentlich kaum.« Buffy machte eine Handbewegung zum oberen Stock, wohin sie sich verzweifelt wünschte. »Ich werd bloß 'ne Dusche nehmen.«

»Tja, wenn du dich beeilst, kann ich dich zur Schule begleiten.« Wieder lächelte Mom.

»Danke«, sagte Buffy rasch.

Nun besah sich Joyce ihre Tochter ein wenig genauer. Sie kniff die Augen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf auf die Seite. »Ist irgendwas?«

Schau sie total erstaunt an. Mach einen auf unschuldig. Sie weiß es nicht. Sie kann's nicht rauskriegen.

Wirklich nicht?

»Nein«, versicherte Buffy ihr. »Was soll denn sein?«

»Ich weiß es nicht. Du siehst bloß so aus ...«

Unschuldig. Ich seh unschuldig aus.

Die Mutter zuckte die Achseln, schüttelte leicht den Kopf und begab sich wieder in die Küche.

Buffy drehte sich um und marschierte die Treppe hinauf. Der Riss in ihrem Pullover war der einzige sichtbare Beweis dessen, was letzte Nacht geschehen war.

Giles stand hinter der Ausleihtheke, als Xander in die Bibliothek gestürmt kam. Eine äußerst reizvoll aussehende Cordelia hatte sich die Theke zum Sitzplatz gewählt und hielt einen dicken Wälzer auf dem Schoß.

»Also, der Busbahnhof war ein totaler Reinfall und übrigens der gemütlichste Ort auf der Welt, an dem man die Nacht verbringen kann«, meckerte Xander. »Welch eine vielbefahrene Kreuzung mitten in unserem schönen Land!«

»Hast du keine Vampire gesehen, die Kisten transportierten?«, erkundigte sich Giles.

»Nein, hab ich nicht!«, teilte Xander ihm mit. Er warf einen Blick in die Runde und sah Miss Calendar und Willow am Bücheraufzug stehen. Zwei sehr traurige Frauen. Mit Cordy drei.

Da fingen seine Alarmglocken an zu läuten. »Was ist denn hier los? Wo ist Buffy?«

»Sie hat sich noch nicht gemeldet«, sagte Willow trostlos.

Giles blickte von seinem Notizbuch auf. »Wenn das Busdepot so leer ist wie die Docks und der Flughafen - « er klang sehr müde und sehr besorgt.

»Ach, nun machen Sie aber mal 'nen Punkt! Glauben Sie, dieser Judge ist schon zusammengesetzt worden?«, fragte Xander.

»Ja.« Entmutigt schraubte Giles die Kappe auf seinen Füller.

»Dann könnte Buffy ja ...« Da kann sie nicht hingehen, dachte Xander. Wird sie nicht hingehen. »Wir müssen die beiden finden.« Keine Panik. Wie sollte ich wohl nicht die Panik kriegen? Okay, angenommen, ich wäre Buffy. Wohin hat sie gesagt, wollten sie und Angel gehen? Sie hat von dieser Party geträumt. Giles war völlig aus dem Häuschen, weil sie keinen Plan hatte, was auch stimmte, und dann haben wir uns getrennt.

Wir müssen zur Fabrik!

»Wir müssen dahin, zu dieser Fabrik. Da verstecken sich die Bie ster doch, oder?« Er wandte sich an Willow und Miss Calendar. »Gehen wir!«

Cordelia sah ihn völlig verblüfft an. »Und was sollen wir dort machen? Außer Angst haben und sterben?«

»Niemand bittet dich mitzukommen, Cordelia«, gab Xander zurück. »Wenn diese Vampire mal 'n paar Pflegetips brauchen, dann rufen wir dich an.«

Cordelia senkte die Augen, als ob sie sich schämte.

Ja. Als ob.

»Aber Cordelia hat Recht«, schaltete Giles sich ein. »Wenn Buffy und Angel ein Leid ... zugestoßen ist, muss es uns nicht besser ergehen.«

Xander war viel zu aufgebracht, um zu hören, was Giles sagte. Er dachte nur an Rettung. »Also, diejenigen unter uns, die noch ein paar Gefühle haben, werden jetzt etwas tun, um zu helfen.«

»Xander!«, tadelte ihn Miss Calendar.

»Nein. Xander hat Recht!«, platzte Willow heraus. »Mein Gott! Ihr seid ja alle ... also, ich bin im Moment total aufgeregt und deshalb will mir kein passendes Wort einfallen ... aber genau das seid ihr, und wir gehen jetzt zu der Fabrik!« Sie ging schon mal voraus.

»Genau!«, rief Xander und folgte ihr.

In diesem Augenblick flitzte Buffy durch die Tür der Bibliothek.

»Buffy!«, schrie Willow auf.

Gottseidank. »Wir wollten dich gerade befreien«, erklärte Xander.

»Na ja, wenigstens einige von uns.« Willow warf einen spitzen Blick auf Giles.

»Ich wäre auch mitgegangen.« Er war in der Defensive.

Miss Calendar ging auf Buffy zu. »Wo ist Angel?« .

Buffy blickte schuldbewusst drein. Sie wandte sich an Giles. »Hat er sich denn nicht bei euch gemeldet?«

»Nein.«

Cordelia ließ sich von der Theke gleiten. »Was ist passiert?«

Giles holte tief Luft. »Dieser Judge ... ist er...?«

»Er muss nicht mehr zusammengebaut werden«, berichtete Buffy müde. »Er läuft schon herum - und ist voll funktionstüchtig.«

»Verdammt!«, Giles nahm die Brille ab.

»Er hätte uns fast getötet«, fuhr Buffy fort. »Angel hat mich gerettet.«

»Warum hast du nicht angerufen?«, fragte Giles ein wenig sanfter. Wie ein besorgter Daddy. »Wir dachten -«

»Also, tja, wir mussten uns verstecken«, erklärte Buffy. »Wir steckten im Kanal fest, und auf der Flucht haben wir uns getrennt ... Hat denn keiner was von ihm gehört?« Ihre Stimme klang wie die eines verängstigten kleinen Mädchens, und so sehr Xander auch ihren Liebsten beneiden mochte - jetzt tat sie ihm über alle Maßen Leid.

Willow stellte sich neben ihre Freundin und sagte tröstend: »Er wird bestimmt noch kommen.«

»Ja. Du hast bestimmt Recht.« Buffy klang überhaupt nicht überzeugt.

»Buffy - was diesen Judge angeht-« Giles zögerte, erwollte Buffys Gefühle nicht verletzen. »Wir müssen ihn aufhalten.«

»Ich weiß.« Sofort verwandelte Buffy sich wieder in die Jägerin. Mann, sie ist wirklich cool.

»Was kannst du uns über ihn sagen?«, fragte Giles gespannt.

»Nicht viel«, musste Buffy zugeben. »Ich hab ihn einmal getreten, und dann war mir zu Mute wie bei einem Fieberanfall.« Das hab ich Angel nicht erzählt. Er glaubt, mir wäre nichts passiert. Aber deshalb war mir so komisch, als wir zu seiner Wohnung kamen. »Wenn er mich angefasst hätte ...«

»Bald schon braucht er nicht einmal mehr das zu tun«, mahnte Giles besorgt. »Wenn er stärker wird, kann er uns mit einem Blick zu Asche verbrennen.«

»Ach, das auch noch?«, warf Buffy ein. »Echt nicht der netteste Typ in der Stadt.«

Giles seufzte frustriert. »Ich werde weiter forschen und nach seiner Schwachstelle suchen. Ihr anderen solltet mal in eure Klassen gehen.«

»Ich werde wohl besser auch gehen«, sagte Miss Calendar und war schon auf dem Weg zur Tür. »Vielleicht kann ich im Internet etwas über den Judge herausfinden.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Giles ehrlich.

An der Tür blieb Xander stehen. »Nach der Schule komme ich wieder und helfe Ihnen bei Ihren Nachforschungen.«

Cordelia rauschte an seine Seite, dann schoss sie ihren Giftpfeil ab. »Ja, du könntest schon was Nützliches finden ... wenn es 'n Buch ist, das du auch zu lesen verstehst.« Sie gab ihm einen Klaps auf die Brust.

Xander wich betroffen zurück. Immer muss sie einen runtermachen. Dann tat er es mit einem Schulterzucken ab und marschierte davon. Der Judge konnte auf jeden Fall mehr Schaden anrichten als Cordy.

Willow trabte mit Buffy über den Korridor, auf dem jede Menge eifriger Schüler herumliefen. »Du glaubst nicht, dass Angel sich allein hinter die Verfolgung des Judge geklemmt hat?«

»Nein. Dazu ist er zu klug. Vielleicht wollte er nur... ich weiß es nicht.« Ich kann ihr nicht erzählen, dass ich mit ihm geschlafen habe. Ich kann es niemandem erzählen. Was würden sie von mir denken. Was denkt er bloß? Wo steckt er nur? »Ich wünschte nur, er würde sich bei mir melden. Ich muss unbedingt mit ihm reden.«

Sie stiegen die Treppe hoch und merkten nicht, dass Miss Calendar hinter ihnen war und lauschte. Nervös trommelte sie mit den Fingern gegen ihre Tasse mit Kräutertee.

In der Fabrik lümmelte sich Dru auf einem langen Wandbrett. Sie lächelte verträumt und seufzte vor Wohlbehagen.

»Geht's uns jetzt besser?«, erkundigte sich Spike.

Dru seufzte und legte die Hand auf die Stirn. »Ich gebe den Sternen Namen.«

»Du kannst sie doch gar nicht sehen, Liebste.« Er wollte nicht ungeduldig klingen. Doch Dru kannte ihren Spike. Er ist manchmal so ... erdverbunden. Das kommt daher, weil er ein Erdzeichen ist. »Da oben ist die Decke«, fuhr er fort. »Außerdem ist draußen jetzt Tag.«

Dru lächelte verstohlen. »Ich kann sie aber sehen. Nur habe ich ihnen allen den gleichen Namen gegeben, und jetzt herrscht da oben ein schreckliches Durcheinander.« Aufreizend rollte sie sich zu ihm hin. »Ich fürchte, es wird ein Duell geben.«

Neugierig streckte er ihr den Kopf entgegen. Sie sah seine hübschen Narben und wollte die Hand ausstrecken, sie berühren und ihnen gleichfalls Namen geben.

»Haben wir uns erholt, ja? Hast du noch mehr gesehen? Weißt du, was mit Angel geschehen wird?«

»Tja, der zieht nach New York und versucht es am Broadway«, dröhnte Angel, der in diesem Moment lässig den Raum betrat.

Verzückt hob Dru den Kopf. »Es ist 'ne harte NUSS, aber eines Tages tanzt er zufällig in der Chorus Line, als der große Star sich den Knöchel verstaucht hat.«

Oh verdammt, dachte Dru. Nun ist er gekommen, mein geliebter Angel, der mir Spike als Spielgefährten erlaubte. Ist er vielleicht ein bisschen eifersüchtig geworden? Ach Gott, was für Kerle waren die beiden doch, damals. Zwei Bullen, die immer ihre Hörner aneinander wetzen mussten. Machos.

Wie hab ich das geliebt.

Dann verloren wir Angel aus dem Reich des Bösen. Trotz ihrer Rivalität war Spike tief enttäuscht. Er blickte wirklich zu Angel auf und versuchte, seine Grausamkeit nachzuahmen. Hat's aber nie ganz geschafft.

»Du gibst nicht auf, was?«, tönte Spikes wunderbare, tödlich kalte Stimme.

Angel blickte ihn ernst an. »Solange es Ungerechtigkeit auf der Welt gibt, solange Abschaum wie du frei herumläuft - oder besser gesagt, rollt«, er lachte, »werde ich immer da sein. Schau über deine Schulter. Ich werde da sein.«

»Guck mal über deine Schulter.«

Der Judge streckte seine Hand aus. Erlegte sie breit auf Angels Brust. Dru sah fasziniert zu und kauerte sich vor lauter Spannung wie ein Raubtier auf den Boden.

»Tut weh, was?«, neckte Spike.

»Tja, weißt du, es juckt ein bisschen.« Angel bäumte sich auf und zuckte leicht. Aber sonst geschah nichts. Dru wartete atemlos. Es erinnerte sie an Nächte, in denen ein Feuerwerk ihr die gleiche Vorfreude besehen hatte.

Spike war nun ziemlich sauer. »Steh nicht einfach so da! Verbrenn ihn zu Asche!«

Angel zog eine Grimasse. Ihm machte die Sache offensichtlich Spaß. »Ha, vielleicht ist er kaputt.«

»Was zum Teufel geht hier vor?«, wollte Spike wissen.

Dru begriff - sie wusste es jetzt.

»Dieser hier kann nicht verbrannt werden. Er ist sauber«, erklärte der Judge leicht enttäuscht.

»Sauber? Du meinst, er ist - « sagte Spike, der allmählich begriff.

»Er ist nicht menschlich.« Der Judge wandte sich ab. Er hatte jegliches Interesse verloren.

Angel warf sich in die Brust. »Hätte ich selbst nicht besser sagen können.« »Angel!«, stieß Dru im Freudentaumel hervor.

Angel schenkte ihr ein Grinsen. Seine Augen funkelten wunderbar finster. Sie waren wieder vereint, jetzt und hier, und sie konnte sich nicht fassen vor Freude.

»Ja, Baby«, sagte er. »Ich bin zurück.«